Wer sind Sie? Oder genauer: Müssten Sie sich mit fünf Begriffen beschreiben, welche wären das?

Gesellig oder humorvoll vielleicht? Fleißig oder rebellisch? Oder definieren Sie sich vor allem über Ihre sozialen Verbindungen, als Tochter der Eltern, als Ehemann einer Frau, als Elternteil eines Kindes, vielleicht auch als Mitglied im Kegelclub? Oder ist Ihre Identität geografisch verankert, fühlen Sie sich als Europäer oder als Sächsin, als Zugezogene oder als Ostdeutscher? Vielleicht spielt auch Ihr Aussehen eine Rolle und sie definieren sich über Ihren Körperbau, Ihr Geschlecht oder Ihre Hautfarbe. Oder über die Zuschreibungen, die Sie von anderen Ihnen gegenüber erfahren?

Oder hadern Sie vor allem damit, wer Sie bei der Fülle an Merkmalen, die Sie auszeichnen, tatsächlich, tief in Ihrem Inneren, sind?

Entschuldigen Sie die vielen Fragen direkt zu Beginn. Als Psychologin fragt man so gern. Als Persönlichkeitspsychologin besonders, schließlich gelten die Menschen selbst - möchte man sich ihrer Persönlichkeit nähern - als die besten Expert*innen, denn wir kennen uns selbst immer noch am besten. Und dabei müssen wir selbst noch nicht einmal ein vollständiges Bild davon haben, wer wir eigentlich sind. So wie wir in der Psychologie Persönlichkeit auch messbar machen, ohne genau zu wissen, wodurch die Persönlichkeit eigentlich bestimmt wird (außer dass bisher nicht näher spezifizierte Prozesse im Gehirn ursächlich sind - feuernde Nervenzellen, zwischen denen Neurotransmitter herumspringen und ganze Hirnregionen aktivieren).

Für die Identität spielen aus persönlichkeitspsychologischer Perspektive unsere sozialen Netze, unsere Herkunft und unser Aussehen zunächst eine nachgeordnete Rolle. An erster Stelle stehen unser Denken, Fühlen und Verhalten. Persönlichkeit ist, wie wir typischerweise denken, fühlen und handeln und wie wir uns dabei von unseren Mitmenschen unterscheiden. Es sind also eher die Gewohnheiten und Rituale, die wir im Alltag pflegen, die unsere persönlichkeitspsychologische Identität ausmachen. Und diese sind natürlich nicht losgelöst von den Menschen, mit denen wir durchs Leben gehen, und von unserer Herkunft, die uns bestimmte Erfahrungen machen ließ oder geteilte Erfahrungen aus einer bestimmten Perspektive betrachten lässt. Ebenso wenig wie von den genetischen Prädispositionen, die unsere Eltern uns in die Wiege legten.

Unsere Persönlichkeit zeigt sich dann in dem, was wir sagen (und worüber wir schweigen), aber auch darin wie wir es sagen, zu wem wir sprechen, mit welcher Intention und vor dem Hintergrund welcher Werte und Einstellungen. Dieser Komplexität - wage ich mal zu unterstellen - wird die künstlerische Auseinandersetzung mit Persönlichkeiten oftmals eher gerecht als die persönlichkeitspsychologische. Auf der Bühne oder zwischen Buchdeckeln, auf der Leinwand oder im Museum gelingt die Betrachtung des Facettenreichtums und der Ambiguitäten einzelner Persönlichkeiten mit künstlerischen Mitteln zum Teil differenzierter als in der Psychologie.

Das mag daran liegen, dass Kunst und Wissenschaft typischerweise unterschiedliche Methoden nutzen, um sich einer Frage zu nähern. Aber auch daran, dass sie unterschiedliche Ziele verfolgen. Während Kunst auch die Auseinandersetzung mit dem Einzelfall, das ‘in jemanden Hineinfühlen’ und das Erfahrbarmachen des Nichterlebten ermöglicht, fokussiert die Persönlichkeitspsychologie auf das Aufdecken von Gesetzmäßigkeiten, um darauf aufbauend Vorhersagen für die Zukunft zu treffen.

Auch in der Persönlichkeitspsychologie kommt dabei der Sprache eine zentrale Rolle zu. Nach Jahrzehnten des weitgehend unstrukturiert nebeneinanderher Forschens, wurde nach einer Möglichkeit gesucht, die Komplexität der Persönlichkeit in eine Struktur mehr und weniger grundlegender Persönlichkeitsmerkmale einzubetten. Dabei setzte sich die Perspektive durch, dass sich alles, das zentral für die Persönlichkeit - und damit für das Zusammenleben von Menschen - sei, sich in der Sprache niedergeschlagen haben muss. Für alles, das unser Denken, Fühlen und Verhalten charakterisiert - so die Annahme - gibt es ein Wort. Und gibt es kein Wort - so der Umkehrschluss - dann wird es wohl von vernachlässigbarer Bedeutung sein.

So kam es schließlich, dass Wörterbücher gewälzt wurden und alle Worte herausgeschrieben wurden, die Unterschiede zwischen Menschen in ihrem Denken, Fühlen und Verhalten beschreiben. Mehrere tausend Persönlichkeitsmerkmale waren das Ergebnis dieses Prozesses oder - wie Gordon Allport schrieb - “ein semantischer Albtraum”. Zu viel, zu komplex, zu differenziert. Vielleicht nicht, um die Individualität eines Menschen abzubilden, aber doch um allgemeine Gesetzmäßigkeiten aufzudecken, die es erlauben würden, aus der Persönlichkeit der einen Menschen Rückschlüsse auf die Persönlichkeit anderer Menschen zu ziehen.

Zugute kam der Psychologie die Beobachtung, dass Persönlichkeitsmerkmale nicht unabhängig voneinander sind. Überzufällig viele Menschen, die sich durch Geselligkeit auszeichnen, fallen auch durch ihre Gesprächigkeit, ihre Fröhlichkeit, ihren Aktivitätshunger, ihre Lebhaftigkeit und ihre Durchsetzungsfähigkeit auf. Diese Gesetzmäßigkeit ermöglicht, mehrere Merkmale zusammenzufassen, die letztgenannten zum Beispiel zum Persönlichkeitsmerkmal Extraversion. Statt Menschen also anhand dieser sechs Merkmalen zu beschreiben, fasst man diese zu einem Merkmal zusammen. Die Fehler, die dabei entstehen, dass natürlich nicht alle geselligen Menschen gleichermaßen fröhlich, lebhaft und durchsetzungsfähig sind, werden um der Sparsamkeit willen in Kauf genommen.

Übrig bleiben von den anfangs mehreren tausend Persönlichkeitsmerkmalen nach vielen Runden des Zusammenfassens schließlich fünf breite Eigenschaften: die Big Five. Dazu zählen neben der Extraversion auch die emotionale Stabilität (wie ängstlich und sorgenvoll jemand ist), die Offenheit für neue Erfahrungen (ebenso wie für Kunst und Kultur), die Verträglichkeit (wie nachgiebig oder streitlustig jemand ist) und die Gewissenhaftigkeit (wie fleißig und zielstrebig sich jemand verhält). Fünf Merkmale, in denen sich Menschen unterscheiden können. Oder wie ich in meinem Buch ‘Charakterfrage’ in Anlehnung an ein Zitat von meinem geschätzten Kollegen Jonas Obleser schrieb: eine Persönlichkeit als Punkt im fünfdimensionalen Raum.

Die Persönlichkeit auf einen solchen Punkt zu reduzieren ist praktikabel, geht aber natürlich an der deutlich komplexeren Wirklichkeit vorbei. Auch deshalb, weil Persönlichkeit auch im Auge der Betrachterin liegt. Wir mögen uns selbst als freundlich und verträglich empfinden, aber es gibt bestimmt auch Gegenüber, die unsere provozierenden und dickköpfigen Seiten kennengelernt haben und dementsprechend durchaus eine andere Perspektive auf unsere Persönlichkeit haben können. So geht es uns sowohl im echten Leben als auch vor den Bühnen dieser Welt: Zwar mögen wir darin übereinstimmen, wer Heldin und wer Schurke ist (wenn überhaupt das!), doch je mehr uns Autor und Regisseurin zutrauen, desto facettenreicher werden die Charaktere sein und desto unterschiedlicher unsere Perspektiven auf die einzelnen Persönlichkeiten.

Für die Vorhersage von zukünftigem Verhalten ist die Multiperspektivität kein Hindernis: Berücksichtigen wir bei der Vorhersage nicht nur die Perspektive einer Person selbst, sondern zusätzlich auch noch die Perspektive von drei bis fünf nahestehenden Personen oder - noch besser - die Perspektive von Personen, die unsere Zielperson nicht leiden können und daher anderen Verzerrungseffekten unterliegt, dann werden unsere Vorhersagen genauer. Damit wird auch deutlich, dass Menschen nicht ‘die eine Identität’ besitzen, die sie sich selbst zuschreiben oder von anderen zugeschrieben bekommen, sondern dass sich die Perspektiven auf die Identität eines Menschen ergänzen, selbst wenn sie sich zu widersprechen scheinen.

Dass unterschiedliche Menschen uns unterschiedlich sehen, liegt auch daran, dass wir im Alltag in unterschiedliche Rollen schlüpfen, nicht nur als Schauspielerin. In der Elternrolle mögen wir uns anders verhalten als in der beruflichen Rolle, in einer Partnerschaft andere Gewohnheiten zeigen als gegenüber Freunden. So füllt jede Person verschiedene soziale Rollen aus, manche mehr und andere weniger, von denen manche besser vereinbar und andere eher im Konflikt zueinanderstehen und die sich auch in unterschiedlichen Identitäten widerspiegeln, die uns andere jeweils zuschreiben.

Zu jeder Zeit befinden wir uns also in mehreren sozialen Rollen, die sich auf unser typisches Denken, Fühlen und Verhalten und damit auf unsere Persönlichkeit (oder unsere persönlichkeitspsychologische Identität) auswirken. Doch auch über die Zeit hinweg kommt es zu Veränderungen. Unsere heutige Persönlichkeit ist nämlich auch das Ergebnis unserer Erfahrungen, die unseren Blick auf das Leben und uns selbst geschärft haben, uns neue Gewohnheiten ausprobieren ließen und uns immer neue Anpassungen abverlangte.

Solche Erfahrungen können zum Beispiel im Zusammenhang mit einschneidenden persönlichen Lebensereignissen stehen wie dem Eintritt in den Beruf oder dem Übergang in die Rente, dem Beginn oder Ende einer Partnerschaft, der Geburt eines Kindes oder dem Tod einer nahestehenden Person. Vor allem berufliche Lebensereignisse nehmen einen deutlichen Einfluss auf die Persönlichkeitsentwicklung und tragen unter anderem dazu bei, dass wir im Laufe des jungen Erwachsenenalters im Durchschnitt deutlich gewissenhafter werden. Der Beginn einer festen Partnerschaft dagegen stärkt eher die emotionale Stabilität und das Selbstwertgefühl, auch über die Dauer einer Beziehung hinaus.

Auch sogenannte kollektive Lebensereignisse können Persönlichkeitsveränderungen anstoßen. Dabei handelt es sich um Ereignisse, die zeitgleich mehrere Menschen betreffen, wenn auch nicht unbedingt in gleicher Weise. Ein aktuelles Beispiel dafür ist die Corona-Pandemie, die uns allen vorübergehend soziale Distanzierung und weitgehenden Verzicht auf kulturelle Veranstaltungen abverlangt und gleichzeitig mit einer erheblichen Unsicherheit in Bezug auf gesundheitliche Fragen und nicht absehbare Zukünfte einhergeht. Da diese Pandemie in ihrer Tragweite ein singuläres Ereignis ist, gibt es bisher wenig belastbare Daten dazu, wie sich diese kollektive Erfahrung auf die Persönlichkeit auswirken wird. Auf Basis früherer Studien, die sich mit dem Einfluss von Naturkatastrophen beschäftigt haben, lässt sich aber spekulieren, dass sich vor allem die Ängstlichkeit - die fehlende emotionale Stabilität - auch nach Abklingen der Pandemie langfristig in der Gesellschaft halten wird.

Für unsere Identitätsentwicklung ist aber nicht unbedingt ein Lebensereignis notwendig, auch neue Perspektiven auf uns und unser Leben können Veränderungsprozesse anstoßen. Ein persönliches Beispiel: Es brauchte das 30-jährige Jubiläum des Mauerfalls und das Buch ‘Lütten Klein’ des Soziologen Steffen Mau, um mir die Bedeutung meiner ostdeutsche Identität bewusst zu machen. Auch wenn die DDR weit zurück liegt und ich selbst damals noch nicht einmal im Schulalter war, ich sowohl im Ost- als auch im Westteil Deutschlands sowie im Ausland gelebt habe, hat mir doch die Auseinandersetzung mit der DDR-Vergangenheit bewusst gemacht, wie sehr ich weiterhin auch Ostdeutsche bin. Meine Identität wurde also erweitert, einfach weil eine bestimmte geteilte Lebenserfahrung salient wurde. In der Persönlichkeit schlägt es sich - wie wir in gerade in einer Studie aufgedeckt haben - übrigens weiterhin nieder, ob eine Person in Ost- oder Westdeutschland lebt. Und auch hier handelt es sich nicht um in Stein gemeißelte Identitäten, vielmehr scheinen wir uns in unserer Persönlichkeit zum Teil an die Region anzupassen, in der wir gerade leben.

Es wird deutlich: Unsere persönlichkeitspsychologische Identität ist nicht nur facettenreich, sondern unterliegt auch einem stetigen Wandel. Das fällt uns meist rückblickend auf, wenn wir uns daran erinnern, wer wir vor zehn oder zwanzig oder mehr Jahren waren und wie wir uns zu unserem aktuellen Ich weiterentwickelt haben. Schwerer fällt uns, ebenso viele Veränderungen auch für unsere Zukunft zu erwarten, ein Effekt, der ‘end of history’-Illusion genannt wird. Dabei werden wir zu keinem Zeitpunkt eine fertige oder stabile Persönlichkeit erreichen. Vielmehr ist unsere Identität im stetigen Wandel begriffen und hat über die gesamte Lebensspanne das Potenzial, sich weiter zu entwickeln.


Dieser Gastbeitrag erschien im Oktober 2020 im DREIKLANG, einem Magazin der Oper Leipzig.