Ich liebe (scheinbare) Widersprüche: Einerseits für freie Wahlen zu sein und andererseits für Entscheidungen per Los. Für Feminismus und den Schutz des ungeborenen Lebens. Für Umweltschutz und für Spaß am Autofahren. „Die Welt ist kompliziert, gerade deshalb ist sie schön“, finden die InitiatiorInnen des March for Science Berlin. Und ich auch. Aber statt Komplexität und Widersprüche auszuhalten gibt es eine ‚Kultur der Irritationsvermeidung‘, meint Peter Strohschneider. Hoffentlich ändert sich das bald, schließlich sind mit den sozialen Medien die Gegenargumente heutzutage mit einem Klick erreichbar.


Kürzlich traf ich mich mit einer Bundestagsabgeordneten. Noch ganz beseelt vom inspirierenden Gespräch über Politik und die Welt, las ich auf dem Rückweg das Buch Gegen Wahlen des niederländischen Autors David van Reybrouck in dem – im starken Kontrast zum vorherigen Gespräch – Abstimmungen für undemokratisch erklärt werden. Auch davon fühlte ich mich inspiriert. Ich liebe diese scheinbaren Widersprüche: Einerseits schlägt mein Demokratinnen-Herz höher, wenn sich, wie bei der letzten Landtagswahl in Berlin, wegen großen Andrangs lange Schlangen vor den Wahlkabinen bilden. Andererseits überzeugen mich die Vorteile einer deliberativen Demokratie, in der geloste statt gewählte Bürgerinnen und Bürger entscheiden.

Unter dem Label Diversity wird momentan laut für die vielfältige Zusammensetzung von Entscheidungsgremien gekämpft, zum Glück immer erfolgreicher. Gleichzeitig habe ich das Gefühl, dass es eine sinkende Diversität innerhalb von Personen gibt. Aber ich möchte für Feminismus sein können und gleichzeitig für den Schutz des ungeborenen Lebens. Ich möchte für Umweltschutz sein und gleichzeitig anerkennen können, dass Autofahren Spaß macht. Ich möchte Angela Merkel weiterhin übelnehmen können, dass sie sich 2003 für den Irakkrieg ausgesprochen hat und gleichzeitig ihr „Wir schaffen das!“ wertschätzen.

„Die Welt ist kompliziert, gerade deshalb ist sie schön“, steht im Leitbild des March for Science Berlin, der am Samstag nicht nur dort, sondern in zahlreichen Städten weltweit viele Menschen auf die Straße zog. Stimmt, aber diese Komplexität mit ihren Widersprüchen auszuhalten ist nicht selbstverständlich. Peter Strohschneider, Präsident einer wichtigen Forschungsförderungsorganisation, spricht in diesem Zusammenhang von einer „Kultur der Irritationsvermeidung“: Als Reaktion auf eine komplexe Welt verfallen immer mehr Menschen dem Populismus, der mit einfachen Antworten von Komplexität und Irritationen entlastet.

Den sozialen Medien wird bei der Irritationsvermeidung eine zentrale Rolle zugesprochen. Statt morgens eine Tageszeitung zu überfliegen, um diverse Perspektiven auf das Weltgeschehen abzugreifen, verlören wir uns in den Echokammern von Twitter, Facebook und Co. Aber natürlich sind auch viele Print-Medien auf eine bestimmte Leserschaft ausgerichtet, bieten also nicht notwendigerweise diverse Perspektiven. Dem kann man gezielt entgegenwirken und beispielsweise bei linker politischer Überzeugung die F.A.Z. abonnieren und bei konservativer Einstellung die taz, um sich so auch mit den Argumenten der Gegenseite auseinanderzusetzen.

Via sozialer Medien sind die Argumente von Personen mit anderen politischen Einstellungen und Überzeugungen dagegen nur einen Klick entfernt. Tatsächlich zeigten Bakshy und Kollegen, dass es nicht auf Filterblasen zurückzuführen ist, dass Menschen bei Facebook vor allem auf Meldungen Gleichgesinnter treffen, sondern auf die Wahl ihres sozialen Netzwerks. Es ist also nicht der Algorithmus einer Onlineplattform, der uns immer wieder mit einseitigen Postings in unseren Einstellungen bestärkt. Vielmehr ist es unser soziales Netzwerk, das uns online und offline prägt. Insofern können Online-Medien den Zugang zu diverseren Meinungen sogar erleichtern.

Das Bedürfnis, Irritationen zu vermeiden, wird in der Psychologie mit „Intoleranz gegenüber Ambiguität“ beschrieben. Personen mit einer solchen Intoleranz empfinden mehrdeutige, unklare Situationen als bedrohlich. Sie neigen dazu, wenig offen für unterschiedliche Perspektiven zu sein und im Zweifel am Status quo festzuhalten. Die Suche nach schnellen, klaren Antworten stärkt jedoch alte Stereotype statt informierte Abwägungen. Da (fast) alles ein für und wider hat, sollten wir uns irritieren lassen, von der Papier-Zeitung, den Andersdenkenden und – nur einen Klick entfernt – in den sozialen Medien. Denn Widersprüche sind real und sie sind wertvoll.

Zum Weiterlesen

  • Eytan Bakshy, Solomon Messing, & Lada A. Adamic (2015). Exposure to ideologically diverse news and opinion on Facebook. Science, 348, 1130-1132.
  • John T. Jost, Jack Glaser, Arie W. Kruglanski & Frank J. Sulloway (2003). Political conservatism as motivated social cognition. Psychological Bulletin, 129, 339-375.
  • David Van Reybrouck (2016). Gegen Wahlen: Warum Abstimmen nicht demokratisch ist. Göttingen: Wallstein Verlag.

Dieser Text wurde zuerst im Psychologie Heute-Blog veröffentlicht. Er ist Teil der Reihe “Der psychologische Blick”, in der zwischen Juli 2014 und Dezember 2017 vier bis sechs Kolumnist:innen - und ich war eine davon - über aktuelle Themen aus Alltag, Gesellschaft und Wissenschaft schrieben.