Wir treffen eine Vielzahl von grundlegenden Lebensentscheidungen unter großer Unsicherheit. Manchmal hilft die Intuition dabei und berücksichtigt sowohl vernünftige Abwägung als auch emotionale Präferenzen. Aber was, wenn die Intuition ratlos ist? Soll dann der Kopf entscheiden? Oder der Zufall? Mein Plädoyer: Im Zweifel immer die Veränderung wagen!


Kürzlich musste ich eine grundlegende Lebensentscheidung treffen: Ich bekam eine Stelle in Lübeck angeboten, gleichzeitig tat sich eine vielversprechende berufliche Chance in Berlin auf. Was für ein Glück, was für ein Hochgefühl! Nun lagen zwei Lebenswege vor mir und ich musste eine folgenschwere Entscheidung treffen. Eine Woche habe ich abgewartet: Meist klärt das meine Intuition nach einiger „Bedenkzeit“ von selbst. Nicht in diesem Fall, sie war ratlos. Also half der Kopf nach: Ich holte alle erdenklichen Informationen ein, sprach mit alten und neuen Kolleginnen und Kollegen und mehreren Lieblingsmenschen. Letztendlich fiel die Wahl auf Lübeck.

Es kam dann ganz anders als erwartet. Gute Gründe für Lübeck lösten sich in Luft auf, dafür taten sich neue gute Gründe auf. „Man kann nie so kompliziert denken, wie es plötzlich kommt“, wusste schon Willy Brandt, wenn man dem – mit Zitaten gespickten – Flur in dem Lübecker Hotel glaubt, in dem ich zurzeit die erste Wochenhälfte verbringe. Da ist dann Intuition gefragt: Ein Geistesblitz als eine Mischung aus kühler Logik und heißen Gefühlen, der mit einer plötzlichen Einsicht die Entscheidung erleichtert, meint Wolf Lotter. Aber was, wenn der Geistesblitz ausbleibt?

Neulich wurde ich gefragt, warum ich in Münster studiert habe. Auch das war eine grundlegende Lebensentscheidung und ich war offen für alles, das Bauchgefühl also keine Entscheidungshilfe. Bei der Suche nach einer Antwort stoße ich auf alte Dateien aus dem Sommer 2004, meinem letzten Schulferiensommer. Ich habe damals anscheinend quasi alle Psychologie-Studienordnungen gelesen und meine Studienortwahl nach einem komplexen Entscheidungsschema getroffen, das die Schwerpunktfächer, Größe der Stadt, Entfernung zu den Eltern (nicht zu nah und nicht zu fern) und diverse Hochschulrankings beinhaltete. Heraus kam die Entscheidung für Münster – eine gute Entscheidung, aber wirklich besser als alle anderen?

Mit einem guten Freund sitze ich im eins44 in Neukölln, er lädt mich zur Feier der Lübeck-Zusage zum Essen ein. Und wir reden über meine Entscheidung für Lübeck trotz meiner Liebe zu Berlin. Er findet, es werden häufig falsche Entscheidungen getroffen, vielleicht nicht in diesem Fall, aber andernorts: Bei Stellenbesetzungen oder dem Verteilen von Forschungsgeldern zum Beispiel. Insofern hat er Sympathie dafür, den Zufall entscheiden zu lassen. Die Welt ist sowieso unvorhersehbar (vielleicht zum Glück!). Und die Vernunft kann zwar im Vorhinein mit viel Mühe Informationen sammeln und abwägen, ist dann aber doch unwissend und – schlimmer noch – systematisch verzerrt.

Steven Levitt war anscheinend ähnlicher Ansicht und nutzte den Zufall in einem Feldexperiment: Unentschlossene Menschen ließ er online zu einer wichtigen Lebensentscheidung eine Münze werfen. 20.000 Münzwürfe später zeigte sich: Die Unentschlossenen nehmen die Zufallsempfehlung ernst und diejenigen, die sich für eine Veränderung entschieden, waren ein halbes Jahr später glücklicher als diejenigen, die sich (vorerst) gegen eine Veränderung entschlossen. Statt den Zufall entscheiden zu lassen, empfiehlt Levitt den Unentschlossenen nun: „Wenn Sie sich nicht entscheiden können, sollten Sie das Neue wählen“.

Ob das Eingehen einer exklusiven Beziehung oder das Beenden einer ebensolchen, die Suche nach dem Studienort oder eine berufliche Weiterentwicklung, wir treffen eine Vielzahl von grundlegenden Lebensentscheidungen unter großer Unsicherheit. Meist ist völlig unklar, wie die Zukunft wird, was sie nur begrenzt rational zugänglich macht. Welche Entscheidung auch getroffen wird, viel wichtiger scheint mir, überhaupt Entscheidungen zu treffen. Denn keine Entscheidung ist auch eine Entscheidung und vielleicht die schlechteste von allen Alternativen. Ich selbst lege mich deshalb gern fest. Aber gern immer wieder neu. Im Zweifel bin ich eigentlich immer für Veränderung. Aber auch das kann sich natürlich verändern.

Zum Weiterlesen

  • Die Junge Akademie (2015). Zufall – Wem fällt was zu?. Junge Akademie Magazin.
  • Levitt, S. D. (2016). Heads or tails: The impact of a coin toss on major life decisions and subsequent happiness. the National Bureau of Economic Research, Working Paper 22487.
  • Lotter, W. (2016). Zündstoff: Intuition und Vernunft sind keine Gegensätze. Sie ergänzen einander ideal. brand eins.

Dieser Text wurde zuerst im Psychologie Heute-Blog veröffentlicht. Er ist Teil der Reihe “Der psychologische Blick”, in der zwischen Juli 2014 und Dezember 2017 vier bis sechs Kolumnist:innen - und ich war eine davon - über aktuelle Themen aus Alltag, Gesellschaft und Wissenschaft schrieben.