über das überschätzen psychologischer ratschläge.
aus dem psychologie heute-blog 'der psychologische blick'.
Meist können wissenschaftliche Studien Auskunft über die Allgemeinheit geben, selten aber über den Einzelfall. Eine kritische Distanz zu psychologischen Ratschlägen ist deshalb empfehlenswert.
Manchmal bekomme ich Briefe von Menschen, die ich nicht kenne. Vor wenigen Monaten schickte mir zum Beispiel ein Berliner eine Idee zu meiner Forschung. Seitdem schreiben wir uns hin und wieder und denken die Idee weiter, das ist sehr inspirierend. Häufiger als Ideen bekomme ich allerdings Briefe mit Fragen. Und meist schließen sich diese Fragen an eine ausführliche Beschreibung der Lebenssituation des Schreibenden an. Solche Fragen ehren mich, wegen ihrer unbekümmerten Offenheit und wegen des Glaubens, ich hätte einen psychologischen Rat. Das Problem ist: Oft werden psychologische Ratschläge hoffnungslos überschätzt.
Zum Beispiel war ich vor einiger Zeit auf einer feierlichen Abendveranstaltung mit einem anschließenden köstlichen Buffet. Während ich mir kleine verzierte Gemüseschnitze auf den Teller stapelte, sprach mich ein junger Mann an, er habe gehört, ich sei Psychologin und schreibe über die Liebe, er habe da mal eine Frage. Das klang nach einer spannenden Geschichte. Und so saß ich wenige Sekunden später zwischen dieser ganzen vornehmen Förmlichkeit und lauschte Berichten zu romantischen Höhepunkten (beziehungsweise dem Ausbleiben dieser), verspäteten Liebeserklärungen auf dem Eiffelturm und unerwiderter Liebe.
Und dann folgte die Frage nach dem psychologischen Rat. Schwierig. Ich habe mich natürlich bemüht, bin dann aber doch ans Buffet geflüchtet. Denn es ist ja so: Solche Lebensgeschichten wecken zwar genau die Neugier, die vor zehn Jahren mein Grund für das Psychologiestudium waren, in der Wissenschaft geht es aber kaum um den Einzelfall, sondern meist um allgemeine Zusammenhänge. Mit den Fragen nach Rat kommen dann aber eben nicht Max Mustermann und Lieschen Müller, sondern in den allermeisten Fällen Menschen in ungewöhnlichen Lebenssituationen.
Neulich saß ich mit meiner Freundin Maria im Hotel Seeblick, einem Café in Leipzigs Südvorstadt. Es ging um die Liebe, beziehungsweise um eine verkorkste Situation, in der sie sich befand. Maria ist absolut immun gegen psychologische Ratschläge, schließlich hantiere man ja nur mit Wahrscheinlichkeiten und in ihrem Einzelfall könne alles ganz anders sein. Stimmt natürlich. Aber bei der Wahl zwischen einer Brücke mit einem Einsturzrisiko von 99 Prozent und einer solchen mit einem Einsturzrisiko von 1 Prozent würden die meisten dann doch die zweite überqueren. Einstürzen kann man dabei aber natürlich trotzdem.
Ohnehin sind Ratschläge aus dem Elfenbeinturm mit Vorsicht zu genießen, findet Markus. Mit ihm und weiteren Freunden treffe ich mich einmal im Monat und meist wird sich dann zu den romantischen Highlights der vergangenen Wochen ausgetauscht. Es sind einige Psychologen darunter, Rat lässt also meist nicht lange auf sich warten. Als wir kürzlich im Café Schadé im Wedding saßen und weit über die erste geteilte Rotweinflasche hinaus waren, meinte Markus, es sei doch erstaunlich, dass sich häufig gerade diejenigen beruflich einem Thema widmeten, die in der Realität keinen blassen Schimmer davon hätten. Nun ja, wissenschaftliche Informiertheit ist eben längst noch kein Erfolgsgarant für die Alltagsbewältigung.
Manchmal sind wackelige Brücken sowieso die bessere Option. Ich habe zum Beispiel meine Tochter mit 18 und meinen Sohn mit 21 Jahren bekommen. Dass dies der Weg über die wackelige Brücke ist, zeigen zahlreiche Studien zu den Risiken früher Elternschaft. Und wackelig ist es tatsächlich, aber ganz eingestürzt ist die Brücke nicht. Manchmal muss man eben neue Brücken bauen, wissenschaftliche Ergebnisse sind schließlich auch nur ein Spiegel der Gesellschaft und müssen eben nachziehen, wenn sich die Realität verändert.
Zum Weiterlesen
- Boden, J. M., Fergusson, D. M., & Horwood, L. J. (2008). Early motherhood and subsequent life outcomes. The Journal of Child Psychology and Psychiatry, 49, 151-160.
- über neue Brücken: Wissenschaft und Familie: Eine Dialogplattform.
Soundtrack zum Blog-Post:
- über einen gut gemeinten Ratschlag: „The Cigarette Duet“ von Princess Chelsea.
Dieser Text wurde zuerst im Psychologie Heute-Blog veröffentlicht. Er ist Teil der Reihe “Der psychologische Blick”, in der zwischen Juli 2014 und Dezember 2017 vier bis sechs Kolumnist:innen - und ich war eine davon - über aktuelle Themen aus Alltag, Gesellschaft und Wissenschaft schrieben.