länger jung bleiben oder früher reifen?
gastbeitrag für reflexe.
Die Persönlichkeit ist das Herzstück dessen, was uns als Individuum ausmacht. Sie beschreibt, wie wir uns von anderen Menschen in unserem Denken, Fühlen und Verhalten unterscheiden, also unsere individuelle Besonderheit. Damit ist die Persönlichkeit eng an unsere Identität geknüpft und verständlicherweise über weite Strecken unseres Lebens stabil. Gehören wir schon als Kind eher zu den Zurückhaltenden, dann gehören wir auch im jungen Erwachsenenalter oder auch noch später im sehr hohen Alter mit hoher Wahrscheinlichkeit eher zu den ruhigen statt besonders draufgängerischen Menschen.
Mittlerweile gibt es eine Vielzahl von Studien, die eine starke Stabilität der Persönlichkeit über lange Zeit gefunden haben. Ein eindrückliches Beispiel ist das berühmte Marshmallow-Experiment. In der klassischen Studie von Walter Mischel und Kollegen wurde Kindern ein Marshmallow angeboten mit der Möglichkeit, entweder diesen einen Marshmallow sofort zu essen oder abzuwarten um später zwei Marshmallows essen zu dürfen. Vorschulkinder unterschieden sich in der Fähigkeit, die Belohnung aufschieben zu können, je nachdem wie stark ihre Fähigkeit zur Selbstkontrolle ausgeprägt ist.
Auch noch zehn Jahre später zeigt sich, dass die vormals selbstkontrollierten Kinder zu Jugendlichen herangewachsen sind, die eher Versuchungen widerstehen können als Kinder, die im Vorschulalter nicht abwarten konnten den Marshmallow zu essen. Darüber hinaus waren sie auch intelligenter und sozial kompetenter, waren leistungsstärker, selbst-bewusster und konnten besser mit Stress und Frustration umgehen. Nachfolgende Studien zeigen, dass diese Eigenschaften sogar über noch längere Zeitspannen Vorhersagen über die Person eines Menschen ermöglichen.
Dieser starken Stabilität zum Trotz, unterliegt die Persönlichkeit Veränderungen. Dazu zählen sogenannte normative Veränderungen, die beschreiben, wie sich Menschen durchschnittlich im Laufe ihres Lebens entwickeln. Es geht hierbei also um allgemeine Entwicklungstrends, die bei vielen Menschen zu beobachten sind. Eine Ursache dafür kann beispielsweise sein, dass es bestimmte Lebensphasen gibt, die es erfordern sich auf eine bestimmte Art zu verhalten um diese Lebensphasen erfolgreich bewältigen zu können. Ähneln sich die Anforderungen mit denen Menschen eines Alters konfrontiert werden, dann kann dies zu solchen normativen Veränderungen in der Persönlichkeit führen.
Darüber hinaus gibt es aber auch individuelle Veränderungen, die beschreiben, wie sich Menschen in ihrer Entwicklung voneinander unterscheiden. Beides schließt sich nicht aus, vielmehr ist es durchaus plausibel, dass einige Menschen den normativen Entwicklungstrends früher folgen, während bei anderen erst später diese Veränderungen angestoßen werden. Genauso gibt es Menschen, deren Persönlichkeit sich komplementär zu typischen Entwicklungstrends verändert. Das kann der Fall sein, wenn Menschen ungewöhnliche Lebenswege einschlagen, seltene Lebensereignisse erleben oder typische Lebenserfahrungen nicht sammeln.
Die Fülle an Persönlichkeitseigenschaften zu beschreiben, die eine Person in relativ stabiler Weise von anderen unterscheidet, mutet zunächst als beinahe aussichtsloses Unterfangen an. Jedoch lassen sich fünf globale Persönlichkeitseigenschaften identifizieren, die bereits einen Großteil der Persönlichkeit beschreiben können. Diese sogenannten Big Five umfassen die Eigenschaften emotionale Stabilität, Extraversion, Offenheit für Erfahrungen, Verträglichkeit und Gewissenhaftigkeit. Jede Person trägt diese Eigenschaften in sich, allerdings in unterschiedlichem Ausmaß. Diese unterschiedlichen Ausprägungen ermöglichen sowohl Vergleiche zwischen Personen als auch Vergleiche über die Zeit.
Wie verändert sich die Persönlichkeit?
Die Emotionale Stabilität ist eine Eigenschaft die beschreibt, wie selbstsicher, gelassen und entspannt eine Person ist. Während Menschen in jungen Jahren noch dazu tendieren vergleichsweise unsicher und stressanfällig zu sein, mindert sich dieser Neurotizismus im Laufe des jungen Erwachsenenalters. Im Alter von ungefähr 40 Jahren gelingt es den Menschen eher, auch in stressigen Situationen die Ruhe zu bewahren und sich durch Herausforderungen nicht leicht aus dem Konzept bringen zu lassen.
Die Eigenschaft Extraversion beschreibt sowohl wie gesellig und gesprächig ein Mensch ist, als auch wie dominant und durchsetzungsfähig, wie aktiv und fröhlich ein Mensch ist. Der Aspekt der Geselligkeit zeigt im Laufe des Lebens kaum normative Veränderungen. Der Aspekt der sozialen Dominanz steigt dagegen im jungen Erwachsenenalter deutlich an. Mit etwa 40 Jahren haben Menschen gelernt sich in sozialen Situationen zu behaupten und sind im Durchschnitt weniger zurückhaltend als noch 10 oder 20 Jahre zuvor.
Auch die Eigenschaft Offenheit für Erfahrungen unterliegt deutlichen Veränderungen über die Lebenspanne. Sie beschreibt, wie stark Personen an Unbekanntem interessiert sind. Das kann sowohl andere Kulturen als auch andere Denkweisen betreffen. Eine stark ausgeprägte Offenheit für Erfahrungen geht einher mit originellen Ideen und Freude an intellektuellen Herausforderungen. Während junge Menschen typischerweise noch sehr unkonventionell und neugierig sind, mindert sich dies im Verlauf des Erwachsenenalters. Ältere Menschen haben im Allgemeinen eine weniger offene, eher konservative Grundhaltung.
Mit der Verträglichkeit werden prosoziale, das heißt auf die Gemeinschaft orientierte, Eigenschaften zusammengefasst. Verträgliche Menschen zeichnen sich durch Hilfsbereitschaft aus, sind wohlwollend und haben Vertrauen in ihre Mitmenschen. Erstaunlicherweise werden Menschen erst im fortgeschrittenen Alter verträglicher. Während junge Erwachsene noch eher dazu neigen von Zeit zu Zeit streitlustig oder zynisch zu sein, sind ältere Menschen eher gutmütig. Das Stereotyp des muffeligen Alten trifft im Allgemeinen also nicht zu, sondern eher das ebenso verbreitete Stereotyp ansteigender Altersmilde.
Die fünfte Eigenschaft der Big Five ist die Gewissenhaftigkeit. Sie beschreibt, inwiefern eine Person ihre Impulse kontrollieren kann um langfristige Ziele zu erreichen und umfasst also auch die eingangs beschriebene Selbstkontrolle, die den Kindern im Marshmallow-Experiment abverlangt wird. Diese Eigenschaft unterliegt insbesondere im jungen Erwachsenenalter starken Veränderungen. In dieser Lebensphase werden Menschen deutlich verantwortungsbewusster, organisierter und zuverlässiger. Diese erhöhte Zielstrebigkeit hält mindestens bis zum Rentenübertritt an und ermöglicht die erfolgreiche Bewältigung der Aufgaben im Arbeitsleben.
Wird von Persönlichkeitsentwicklung gesprochen, dann bedeutet dies erst einmal nur, dass Veränderungen in der Persönlichkeit beobachtet werden, unabhängig davon ob diese positiv oder negativ sind. Das ist auch nicht überraschend, da man streng genommen nicht von einer mehr oder weniger ‚guten Persönlichkeit’ und demzufolge auch keiner mehr oder weniger positiven Persönlichkeitsentwicklung sprechen kann. Vielmehr ist gerade die Unterschiedlichkeit von Menschen so wertvoll. Jedoch werden Menschen im Laufe ihres Lebens mit Entwicklungsaufgaben konfrontiert und um diese erfolgreich bewältigen zu können, haben sich bestimmte Persönlichkeitsausprägungen als hilfreich erwiesen.
Von Persönlichkeitsreifung wird deshalb gesprochen, wenn sich die Persönlichkeit auf eine Art und Weise entwickelt, die als dienlich für die Alltagsbewältigung gilt. Im jungen Erwachsenenalter wird typischerweise von Persönlichkeitsreifung gesprochen, wenn es zu einem Anstieg der Emotionalen Stabilität, Verträglichkeit, Gewissenhaftigkeit und sozialen Dominanz (als einem Aspekt der Extraversion) kommt. Tatsächlich sind diese Entwicklungstrends nicht nur wünschenswert um für die typischen Anforderungen des jungen Erwachsenenalters gewappnet zu sein, sondern sie sind auch normativ, entsprechen also den tatsächlichen Entwicklungsverläufen in diesem Alter.
Im hohen Alter dagegen können es ganz andere Eigenschaftsausprägungen sein, die es erleichtern mit den dann alterstypischen Herausforderungen umzugehen. Bisher gibt es vergleichsweise wenig Forschung zur Persönlichkeit im hohen Alter. Persönlichkeitsreifung wie sie im jungen Erwachsenenalter beobachtet wird, scheint aber zumindest eher weniger gefunden zu werden. Zwar werden die Menschen weiterhin verträglicher und emotional stabiler, aber sie werden auch weniger extravertiert, offen für neue Erfahrungen und gewissenhaft. Diese Persönlichkeitsveränderungen spiegeln möglicherweise eine lockerere Lebenseinstellung wider und wird deshalb auch mit dem Begriff ‚la dolce vita’-Persönlichkeit beschrieben.
Was sind alters-beschleunigende Faktoren?
Wie oben bereits angesprochen, entwickeln sich nicht alle Menschen im gleichen Tempo und in die gleiche Richtung, folgen also nicht alle dem gleichen Entwicklungstrend. Einige Personen reifen schneller in ihrer Persönlichkeit als andere. Eine solche beschleunigte Entwicklung lässt sich zum Beispiel finden, wenn Personen bereits früh in das Berufsleben einsteigen. Ein junger Mensch, der direkt nach dem Schulabschluss eine Lehre absolviert und damit vergleichsweise früh ins Berufsleben einsteigen kann, wird früher in seiner Gewissenhaftigkeit ansteigen als ein Mensch der später ins Berufsleben einsteigt, weil er beispielweise noch studiert.
Ebenso steigt die emotionale Stabilität deutlich durch das Eingehen einer ersten ernsthaften Partnerschaft. Machen junge Menschen also bereits früh positive Erfahrungen in einer romantischen Beziehung, dann wird dies ihre Persönlichkeitsreifung beschleunigen. Ähnlich verhält es sich mit den Lebenswegen, die wir einschlagen. Entscheidet sich eine Person beispielsweise für eine soziale Tätigkeit (zum Beispiel ein freies soziales Jahr), werden dabei hohe Anforderungen an die Verträglichkeit gestellt, die sich an diese Anforderungen anpasst und im Durchschnitt ansteigt.
Was sind alters-entschleunigende Faktoren?
Genauso wie es Menschen gibt die frühzeitig reifen, gibt es auch Menschen, die später reifen, sie bleiben im Bezug auf ihre Persönlichkeit also länger jung. Dies geschieht dann, wenn sie erst spät mit typischen Entwicklungsaufgaben konfrontiert werden, beispielsweise erst spät ins Berufsleben eintreten. Diese entschleunigte Entwicklung tritt auch auf, wenn sich Menschen für einen Lebensweg entscheiden, der andere als die typischen Anforderungen stellt. Es hat sich zum Beispiel gezeigt, dass junge Männer beim Militär deutlich langsamer in ihrer Verträglichkeit reifen als junge Männer, die sich für den Zivildienst entschieden haben.
Ob eine entschleunigte Entwicklung auftritt ist aber nicht nur eine Frage des Individuums, sondern wird auch durch die Gesellschaft beeinflusst, in der Menschen aufwachsen. Zum Beispiel zeigt sich, dass sich die Persönlichkeitsentwicklung in Europa in den letzten Jahrzehnten verzögert hat. Junge Europäer streben heutzutage häufiger eine Hochschulausbildung an und steigen damit später in den Beruf ein. Sie gründen auch deutlich später eine Familie als noch vor wenigen Jahrzehnten. Dies führt dazu, dass auch ihre Persönlichkeit länger ‚jung’ bleibt, es kam also zu einer entschleunigten Entwicklung.
Zum Weiterlesen
- Arnett, J. J. (2000). Emerging adulthood: A theory of development from the late teens through the twenties. American Psychologist, 55, 469-480.
- Michel, W., Shoda, Y., & Rodriguez, M. L. (1989). Delay of gratification in children. Science, 244, 933-938.
- Roberts, B., Walton, K. E., & Viechtbauer, W. (2006). Patterns of mean-level change in personality traits across the life course: A meta-analysis of longitudinal studies. Psychological Bulletin, 132, 1-25.
- Specht, J., Egloff, B., & Schmukle, S. C. (2011). Stability and change of personality across the life course: The impact of age and major life events on mean-level and rank-order stability of the Big Five. Journal of Personality and Social Psychology, 101, 862-882.
- Specht, J., Bleidorn, W., Denissen, J. J. A., Hennecke, M., Hutteman, R., Kandler, C., Luhmann, M., Orth, U., Reitz, A. K., & Zimmermann, J. (2014). What drives adult personality development? A comparison of theoretical perspectives and empirical evidence. European Journal of Personality, 28, 216-230.
Dieser Gastbeitrag erschien im März 2015 bei Reflexe, der Zeitschrift für physikalische Therapie.